FRENDE

Gedanken zur Geschichte der Familien VON ORELLI von Zürich und Locarno, und VON MURALT von Zürich und von Bern und Locarno

gesprochen in Airolo anlässlich der Reise der Familien von Orelli und von Muralt nach Locarno am 10. und 11. Juni 1939 zur Feier der Bestätigung ihres Bürgerrechts in Locarno, als Zeichen des Dankes für die liebenswürdige Gastfreundschaft der Familie von Orelli.

Der größte Einschnitt in der Geschichte der heutigen Familien von Orelli und von Muralt ist ohne Zweifel die Auswanderung aus ihrer tessinischen Heimat im Jahre 1555. Um die tiefe Bedeutung dieses Ereignisses ermessen zu können, wendet der Geschichtsforscher zuerst seinen Blick zurück auf die Grundzüge der Entwicklung der beiden Familien während ihres Lebens am Langensee.

Die Orelli und Muralti treten mit dem Enden des 12. und mit dem beginnenden 13. Jahrhundert ins Licht der Geschichte. Als Angehörige des Standes der Capitanei, als Inhaber kaiserlicher und bischöflich-comaskischer Lehen und als Verwalter wertvoller Regalien, wie insbesondere des großen Zolles von Locarno, sind sie in der Lage, das Dasein feudaler Herren zu führen. Sie leben in festen Schlössern und nehmen schon in der staufischen Zeit an den politischen Geschehnissen in Oberitalien lebhaft Anteil. Vor allem sind die Orelli im Besitze wichtiger Hoheitsrechte im Blenio und in der Leventina. Als Vogt-Rektoren hausen sie auf Serravalle bei Demione und als Podestà im Schloß zu Biasca sowie zu Brissago. In den großen kämpfen zwischen Friedrich II. und seinen Anhängern einerseits, dem Papste und den mächtigsten lombardischen Städten andrerseits nehmen die Edeln von Locarno Partei. Der politisch am stärksten hervortretende Simon de Orello kämpft zuerst als Guelfe im Dienste der Stadtrepublik Mailand gegen den Staufer. Nach dem Untergang des deutschen Herrschergeschlechtes tritt er jedoch die Seite der aus Mailand vertriebenen Ghibellinen unter der Führung der Visconti. Simon de Orello hat einen ganz wesentlichen Anteil am Siege des Erzbischofs Otto Visconti über die della Torre und damit an der Errichtung der Signorie des ersteren über die Stadt und das Territorium von Mailand. In diesen Parteikämpfen des späteren 13. Jahrhunderts konnten die Edeln noch völlig frei nach Maßgabe ihrer Umwelt eingreifen. Wie kleine Fürsten setzten sie ihre Kräfte dort ein, wo sie Gewinn und Steigerung ihrer feudalen Stellung erhofften. Gerade Simon de Orello hat aber, ohne es zu wollen, mit den Diensten, die er der Stadt Mailand und den Visconti leistete, einer neuen politischen Gestaltung der Dinge zum Durchbruch verholfen, die dem alten feudalen Sonderdasein vieler größerer und kleinerer Herren verhängnisvoll werden sollte. Die Visconti bauten nach dem leuchtenden Vorbild des großen Staufers Friedrichs II. in seinem normannisch-sizilischen Staat auch in Norditalien von der Metropole Mailand aus den neuen, modernen Staat auf, der die bisherige mittelalterliche, feudale Ordnung bald völlig verdrängte. An Stelle der Vasallen, der selbständigen und freien Inhaber öffentlicher Rechte, traten die Beamten, nichts anderes als Organe der fürstlichen Zentralgewalt, traten direkte und indirekte Steuern, welche dem neuen Signore oder Tyrannen die Mittel für sein modernes Söldnerheer, für seine durchgreifende Verwaltung, für seine Bauten, seinen Luxus, seine Hofhaltung einbrachten. Dieser moderne Staat mußte schließlich auch die feudale Stellung der Locarner Adelskorporation vernichtend treffen. Wenn gerade die Bedeutung der Capitanei von Locarno darin lag, daß sie dem Untergange der feudalen Gesellschaftsordnung ungewöhnlich lange getrotzt haben, so konnten sie ihn doch nicht verhindern.

Der erste schwere Einschnitt in der Geschichte unserer Familien fällt in das Jahr 1342, das die Visconti Locarno belagerten und eroberten, die Führer der Capitanei gefangen nach Mailand abführten und den größten Teil der adeligen Korporationsgüter, der Regalien, einzogen. Dieses Datum kann für die Orelli, Muralti und ihre Standesgenossen in Locarno als das Ende der eigentlichen mittelalterlichen, feudalen Zeit bezeichnet werden. Gewiß behielten die meisten Capitanei noch ihren Grundbesitz, ihre Wohnstätten, einige Regalien, Die Orelli behaupteten noch über dieses Unglücksjahr hinaus den Podestat von Biasca und denjenigen von Brissago. Nach und nach machten sich aber die wirtschaftlichen und sozialen Schädigungen infolge des Verlustes der großen Regalien so deutlich bemerkbar, daß die Capitanei zu einer wesentlichen Aenderung ihrer Lebensweise, ihres Berufes, ihrer gesellschaftlichen Stellung gezwungen waren.

Dieser Sieg des modernen Staates, des zukünftigen Herzogtums Mailand, über die letzten feudalen Einrichtungen am Südfuße der Alpen fällt zeitlich zusammen mit den ersten Siegen der schweizerischen Städte und Länder nördlich der Alpen über Adel und Fürstentum. In der späteren Heimat der Locarner Geschlechter, in Zürich und in Bern, triumphierte wie in Italien die neue bürgerlich-städtische Welt über die alte feudal-ländliche. 1336 wurden die Zürcher Handwerker durch die Zunftverfassung vollberechtigte Stadtbürger. An ihrer Seite stand zwar, wie bei den Mailändern Simon de Orello, ein Ritter, Rudolf Brun, der damit noch einmal seinem Stande in Zürich die Herrschaft zurückgewann. Die neue Macht aber, die er zu Hilfe gerufen und geführt hatte, sollte der letzte Sieger sein. Bern erkämpfte 1339 mit Hilfe der Bauern aus der Innerschweiz den glänzenden Sieg von Laupen gegen die große Koalition der kleinburgundischen Adels. Auch Bern wurde von einem Edelmann, Rudolf von Erlach, geführt. In Bern konnte sich der Adel in Zusammenarbeit mit den städtischen Patriziern die Herrschaft in der Stadt und von der Stadt aus über das Land auf Jahrhunderte sichern. Beide Ereignisse des 14. Jahrhunderts bedeuteten aber doch das Ende der feudalen Ordnung in der Schweiz. In der Zeit Waldmanns wurden die Zünfte in Zürich allmächtig und die Berner Zwingherren mußten sich unter die Hoheit der Stadt, die der Metzger Kistler führte, beugen. Diese Siege des städtischen Wesens mit Hilfe der Eidgenossen der Urkantone sind aber die wesentliche Voraussetzung für das Wachstum und die Stärke der alten Eidgenossenschaft, die schließlich einen Karl den Kühnen besiegen und über die Alpen als Großmacht in das Spiel der europäischen Mächte in Italien eingreifen konnte. Zwölf von den dreizehn alten Orten wurden schließlich, nach dem glorreichen Pavierzuge von 1512 als Rechtsnachfolger Ludwigs XII., König von Frankreich und Herzog von Mailand, Landesherren von Locarno, Lugano, Mendrisio und Valle Maggia. Während also die Locarner Capitanei dem modernen Stadtstaate Mailand unterliegen, entsteht im Norden von Zürich und von Bern aus derselbe Stadtstaat, der in einer späteren Zeit den Locarnern eine neue, für ihre soziale Entwicklung hoch bedeutsame Heimat werden sollte.

Ein Teil der Locarner Capitanei besitzt nach dem Schlage von 1342, vor allem dann im 15. Jahrhundert, die für den Fortbestand der Geschlechter absolut entscheidende Fähigkeit, sich den neuen Verhältnissen, insbesondere der neuen Gesellschaftsordnung des Renaissancestaates anzupassen und in ihr wiederum einem wertvollen und befriedigenden Platz einzunehmen. Die Vorfahren des ersten Zürcher Orell, des Johannes Aloisius de Orello, besaßen offenbar noch Güter in Locarno und Umgebung. Großvater und Urgroßvater des Aloisius, Anton Aloisius und Johannes, waren Vertraute des Herzogs Gian Galeazzo Sforza; Johannes, Rechtsgelehrter und Notar, hatte bereits den modernen Beruf des Juristen, die beste Vorbereitung für die Laufbahn eines herzoglichen Beamten, ergriffen. Er war noch Podestà in Brissago. Aloisius selber nahm bei verschiedenen italienischen Staaten Solddienste, nahm 1527 am Sacco di Roma teil und erwarb sich offenbar ein beträchtliches Vermögen. Bei den Muralti waren akademische Berufe keine Seltenheit mehr. Martin, der Ahnherr der Berner, war Doktor beider Rechte. Auch er diente dem mailändischen Staate als herzoglicher Podestà zu Vigevano und zu Luino. Er fühlte sich also offenbar, trotz des Ueberganges seiner Heimat an die Eidgenossen, noch stärker als Untertan des Herzogtums Mailand. Johannes, der Ahnherr der Zürcher, hatte den Grad eines Magisters erlangt und übte den Beruf eines Chirurgen aus. Auch in anderen Zweigen der Familie von Muralt finden wir Akademiker, Aerzte und Juristen. Einer der letzteren, Dr. iur. Utr. Franciscus de Muralto in Como, schrieb eine Geschichte seiner Zeit und wurde dadurch zum Historiker.

Ohne Zweifel vollzog sich aber mit dieser beruflichen und sozialen Umstellung auch eine sehr wesentliche geistige Wandlung. In der Feudalzeit waren die Capitanei treue Anhänger der Kirche gewesen, sie hatten als Chorherren zu San Vittore in Muralto eine angesehene Stellung innegehabt. Viele von ihnen ergriffen auch weiterhin, bis in die neuere Zeit hinein, diese Möglichkeit. Die Mediziner und Juristen unter ihnen mußten aber ohne Frage bei ihrem Studium an den italienischen Universitäten die neue geistige Welt des Humanismus, jene philosophische und literarische Einstellung innerhalb der Kultur der Renaissance in sich aufnehmen, die ihnen eine neue und alte Welt, das klassische Altertum, eine Fülle von tiefsten Fragen über Gott, Welt und Mensch, neu gesehen und losgelöst von der kirchlichen Tradition, erschloß, die doch wohl den spätern Uebergang zur Reformation vorbereitet hat. Die Tatsache ist unbestreitbar, ihren genauern Gehalt, ihre Erscheinungsformen bei einzelnen Vertretern unserer Familien kenne wir leider noch viel zu wenig. In dieser geistigen Neuorientierung liegt aber ohne Zweifel neben dem sozialen ein weiteres Moment der Lebens- und Anpassungsfähigkeit an eine neue Zeit. Die Wirkungen des freien, humanistischen Geisteslebens treten auch noch nach Annahme der Reformation hervor, doch ist auch dort die Forschung der Sache noch nicht auf den Grund gegangen.

Wir wundern uns darüber, daß Dr. Martin von Muralt noch in der eidgenössischen Zeit herzoglicher Beamter sein konnte. So gut wie den Schweizern in den regierenden Orten war es auch den Untertanen erlaubt, fremde Dienste als Beamte und Offiziere zu nehmen. Dies war umso willkommener, als in der Heimat eine militärische Tätigkeit, wie sie Aloisius de Orello ausgeübt hatte, oder eine politische, wie bei Martinus de Muralto, kaum mehr möglich war. Die politische Herrschaft in Locarno im Namen der Landsherren, nämlich der zwölf eidgenössischen Orte, hatte der Landvogt in der Hand. Er übte die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit zunächst allein. Erst später wurde ihm für Fälle todeswürdiger Verbrechen ein Kollegium von sieben von der Landschaft gewählten Richtern beigegeben. Die Organe des Landvogtes, den Statthalter, den Fiscal oder Finanzbeamten, ernannten die Boten der zwölf Orte auf der Jahrrechnung aus den Leuten der Landschaft, während der Landschreiber, der wichtigste Beamte an der Seite des Landvogtes, aus den regierenden Orten hervorging. Den Untertanen blieb also keine selbständige Stellung als politische Beamte mehr offen. Der Uebergang an die Eidgenossenschaft bedeutete hierin eine Einschränkung der Lebensmöglichkeiten gerade bei Angehörigen edler Geschlechter. Dieser Umstand hat wohl kaum den Entschluß zum Verlassen der Heimat mitbefördert, da ja doch dann die mailändischen Möglichkeiten auch aufgegeben werden mußten und es im Momente der Auswanderung noch völlig ungewiß war, ob die neue Heimat den Flüchtlingen überhaupt bürgerliche und politische Rechte geben würde. Im übrigen, besonders in beruflicher und wirtschaftlicher Hinsicht, waren die Locarner unter eidgenössischem Regiment durchaus frei, der Staat verlangte auch weniger als mailändische, Kriegszeiten kamen keine mehr, während das Herzogtum Mailand noch lange ein Spielball europäischer Machtpolitik blieb, bis es unter die harte spanische Herrschaft geriet. Wenn wir die Stellung der Locarner vor 1555 zusammenfassend umschreiben wollen, dann müssen wir sagen: Ihrem Stande nach waren sie noch Glieder des Adels, ihre wirkliche soziale Stellung war aber längst eine bürgerliche geworden und in politischer Hinsicht waren sie Untertanen eines fremden, kollektiven Landesherrn. Die Auswanderung brauchte also die gesellschaftliche Stellung kaum zu verändern, sie konnte möglicherweise die politische verbessern, die genealogische mußte wohl einmal aufgegeben werden.

Trotzdem ist der Einschnitt von 1555 sehr tief und der Verlust der uralten Heimat sehr schmerzlich gewesen. Die Auswanderung erfolgte in allererster Linie aus religiösen Gründen. Die katholischen Orte konnten unmöglich an dieser Stelle ihrer Verbindungsstrasse mit dem südlichen, ebenfalls katholischen Nachbarn, mit dem spanisch gewordenen Mailand, mit dem sie immer engere Verbindungen pflegten, einen Stützpunkt der evangelischen Gegner in der Form einer evangelischen Gemeinde dulden. Zürich, von Bern, das sich mit der Liquidation der Grafschaft Greyerz beschäftigte, wenig unterstützt, mußte die Ausweisung zulassen. Es konnte seine Schwäche nur durch die Aufnahme der Flüchtlinge gutmachen. Nur wenige Glieder der beiden Familien traten zum evangelischen Glauben über, diese aber, wie die Geschichte der Frau Barbara von Muralt zeigt, aus tiefer Ueberzeugung. Aloisius de Orello ließ sechs Brüder, Dr. Martinus de Muralto vier in Locarno zurück, ganz abgesehen von den weiteren noch in Locarno lebenden Gliedern der beiden Familien. Die Uebersiedlung bedeutete also eine Trennung des engsten Familienkreises. Die konfessionell verschiedenen Teile blieben jedoch auch nachher noch in enger Verbindung, indem etwa Aloisius Orell von Zürich aus als Kaufmann mit seinen Brüdern in Locarno Geschäfte betrieb. Die schmerzliche Spaltung der Familie bedeutete also für den Wiederaufbau einer wirtschaftlichen Existenz in Zürich wenigstens einen gewissen Vorteil. Die neue Heimat brachte den ehemaligen Capitanei bald auch in genealogischer Hinsicht den Verlust des Adels. Schon in der zweiten Generation gingen sie Ehen mit bürgerlichen Frauen ein. Die Ahnentafel der heute lebenden Orelli und Muralti ist ganz überwiegend bürgerlich. Es sei den Naturforschern und Biologen unserer Familien überlassen festzustellen, inwiefern unter uns nach den Vererbungsgesetzen noch ein vollwertiges Exemplar eines langobardischen Urfreiherrn vorhanden sein kann. Dagegen brachte der Wechsel der Heimat, wie schon angedeutet, keine plötzlichen und wesentliche Umstellung in beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Chirurgus Johannes Muralt insbesondere konnte seinen Arztberuf mit vollem Erfolge weiter ausüben. Sein Bruder Johannes Antonius wie auch Dr. Martinus seine frühere Tätigkeit, als er das eigentliche Haupt der evangelischen Gemeinde der Locarner in Zürich war. Bald öffneten sich den kommenden Generationen von dieser Grundlage aus eine Fülle weiterer beruflicher Möglichkeiten, als Kaufleute, als Unternehmer, als Aerzte, als Gelehrte, dann auch wieder als Offiziere in fremden Diensten.

Während es den Muralti relativ leicht gelang, in der ersten und zweiten Generation das volle Bürgerrecht in Zürich und Bern zu erwerben, mußten die Orelli eine schwere und lange Wartezeit durchhalten, die heute nur als ein Kennzeichen ihrer Zähigkeit und ihres Lebenswillens gewertet werden kann. Der politische Aufstieg war aber für beide Familien nicht sehr leicht. Sie erlangten auch zahlreiche Staatsämter, waren Ratsherren, Landvögte, Seckelmeister und Statthalter, aber kein Zürcher Muralt erreichte die Würde eines Bürgermeisters, kein Berner Muralt wurde Schulheiß, jedoch Hans Heinrich von Orelli als einziger in beiden Familien Bürgermeister von Zürich. Immerhin waren sie, die sie immer persönlich frei gewesen, nun durch die Erlangung der Regimentsfähigkeit auch politisch wieder freie Männer, Glieder der regierenden Stadtaristokratie in den beiden bedeutendsten Stadtstaaten der Schweiz. Damit hatten sie auch Anteil an der von den Städten ausgeübten Landeshoheit nicht nur über das engere Territorium der beiden Städte, ihr späteres Kantonsgebiet, sondern auch über die gemeineidgenössischen Vogteien, in denen Zürich und Bern Mitregenten waren. Sie waren nun, wenigsten im Verhältnis ihres politischen Gewichtes innerhalb der beiden Stadtstaaten, fremde Landesherren ihrer ehemaligen untertänigen Heimat geworden. Sie traten als solche auf, wie etwa Obmann Kaspar von Muralt 1686 als Gesandter über das Gebirg, d. h. Tagsatzungsabgeordneter Zürichs an die ennetbirgischen Jahrrechnungen, oder wie Caspar von Orelli, Landvogt zu Lugano 1730. Einzelne Zweige und Persönlichkeiten beider Familien gelangten in den Besitz sogenannter Gerichtsherrschaften.

Die Glieder beider Familien ergriffen in der neuen Heimat die verschiedenartigen Möglichkeiten des bürgerlich-städtischen Lebens. Viele nahmen fremde Dienste in Frankreich, in Holland, einige sogar in Oesterreich, später in Hessen an, andere wandten sich mit großem Erfolg dem wissenschaftlichen Gebiete zu, wie etwa Chorherr Johannes von Muralt in Zürich als bedeutender Anatom und Mediziner seiner Zeit, wie der Berner Beat Ludwig von Muralt, einer der ersten und eigenartigsten köpfe der frühen Aufklärung des 17. Jahrhunderts, wie schließlich im 19. Jahrhundert unser großer Zürcher Schulmann, Johann Kaspar von Orelli, der Mitbegründer der Zürcherischen Hoch- und Mittelschulen der Regenerationszeit von 1830. Gerade diese drei Vertreter der drei Familien zeigten die Fähigkeit, im geistigen Leben nicht nur mit ihrer Zeit zu gehen, sondern ihr sogar voraus zu schreiten und Wege für die Zukunft zu bahnen, während naturgemäß nach der großen Umwälzung der französischen Revolution und ihrer Wirkungen auf die Schweiz viele Vertreter dieser Stadtaristokratien eine mehr oder weniger betonte konservative Haltung einnahmen. Immer jedoch vermochten die Familien auf dem Boden der wirtschaftliche Entwicklung mit der Zeit Schritt zu halten und als Unternehmer und Kaufleute erfolgreich zu wirken.

Nur wenn die Geschichte einer Familie ein Spiegelbild, einen Ausschnitt aus den großen allgemeinen Veränderungen der abendländischen Geschichte überhaupt darstellt, lohnt sich ihr Studium und ihre Deutung. Für die lebenden Glieder ergibt sich die Aufgabe, nie im Ererbten stecken zu bleiben. Der Sprecher der jungen Generation verpflichtete uns alle auf das Wort:

Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzen!

Im Augenblick aber, da wir die Bestätigung unseres uralten Bürgerrechtes in Locarno erhalten, da wir die Bande zur alten Heimat wieder stärker geknüpft haben, da aber doch unsere Kräfte der neuen und inzwischen auch alt und lieb gewordenen gehören, ergibt sich für uns als Schweizer deutscher und französischer Zunge die große Verpflichtung, unser Augenmerk, soweit das überhaupt in unsern Kräften steht, wieder der alten Heimat, der Schweiz italienischer Sprache, und ihren Geschicken und Sorgen zuzuwenden um so an unserem Platze mitzuwirken als Bindeglied zum Zusammenhalt unseres größeren eidgenössischen Vaterlandes.

Leonard von Muralt


Nach dem Original Typoskript transkribiert. Orthographie und Zeichensetzung wurden beibehalten. Das neunseitige Dokument befindet sich im Archiv der Familie von Muralt von Zürich. Im Mai 2006 - Malou von Muralt, Archivarin

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